Ein Ausflug mit Annette
Es ist ein Donnerstagmorgen im März 2021. Punkt 9.00 Uhr steht Annette im Supermarkt REWE in St. Johannis in Nürnberg und fragt, was denn heute zum Abholen bereit wäre.
Abgeholt wird nicht etwa eine Bestellung oder ein Paket, sondern genießbare Lebensmittel, die – so schade es ist – im Ermessen des Supermarktes und den dahinter stehenden Regularien nicht mehr “marktfähig” sind. Kurzum: Wäre Annette nicht hier, würden sie in den Müll geworfen.
Eine Kiste mit feinsäuberlich vorsortiertem Obst und Gemüse wartet auf Annette. “Gar nicht so viel heute, wie vorbildlich!”, freut sich Annette aufrichtig. Tatsächlich war die Woche zuvor gar nichts übrig: Der Idealfall aus Sicht der REWE-Filialleitung und der Abholerin.
In der Tiefgarage wird der Kisteninhalt umgeladen und im Kofferraum von Annettes Kollegen verstaut. Die gegenseitige Hilfe wie das Ausleihen des Autos liegt in der DNA der Aktion.
Nachdem der Kisteninhalt in den Kofferraum verladen und die Kiste zurück in den REWE gebracht wurde, fahre ich mit Annette in die NORMA in der Johannisstraße. Sie sagt im Markt Bescheid, damit das Tor zum Innenhof geöffnet wird. Die Mitarbeiterin holt vier weitere Kisten mit Lebensmitteln aus dem Kühlregal während wir beginnen die bereitgestellten Lebensmittel zu sortieren. Alle genießbaren Lebensmittel laden wir abermals in den Kofferraum; der Rest kommt in die Tonne direkt neben dem Auto.
Im SIGENA-Nachbarschaftstreff in St. Johannis angekommen, sagen wir Bescheid dass wir da sind. Inge, Eugen, Enrico und normalerweise auch Petra, die heute krank ist, empfangen uns und helfen beim Ausladen. Im Nachbarschaftstreff wird alles in Schüsseln drapiert und die Kühlprodukte im Kühlschrank verstaut.
Normalerweise warten die Lebensmittel nun auf ihre gemeinschaftliche Verarbeitung zu einem köstlichen 4‑Gänge-Menü beim Meet & Eat am Abend. Nach dem Kochen wird bei einem mußevollen Essen normalerweise alles von den Köch*innen verputzt. Die Aktion Meet & Eat wurde Ende 2019 von ein paar Engagierten im Rahmen von SDGs go local initiiert – Annette und Inge, die SIGENA-Koordinatorin, sind zwei davon – und startete gleich mit einem gemütlichen Weihnachtsessen. Wegen der derzeitig geltenden Kontaktbeschränkungen ist das Meet&Eat derzeit ausgesetzt. Dafür werden die Lebensmittel ab 19 Uhr von einem engagierten Team verteilt.
Mit ausgegeben werden auch nichtverkaufte, tagfrische Backwaren, die kurz zuvor bei einer nahegelegenen Bäckerei vom gleichen Team abgeholt wurden. Zum Abholen kommen Menschen, die Freude am Retten der wertvollen Ressourcen haben. Einige bringen auch ihren Nachbar*innen etwas mit. Menschlich läuft alles wie am Schnürchen, weil die Mitmacher*innen allesamt gut zusammenarbeiten und das Wohl aller im Blick haben.
Nach nun gut einem Jahr sind Annette und Inge (im Bild oben die beiden in der Mitte) stolz, dass die Abholung und die Verwertung der Lebensmittel so gut klappen. Als der Gedanke an eine Expansion der Abholungen kam, sprach Inge eine weitere REWE-Filiale an. Mittlerweile werden jeden Donnerstag Lebensmittel von drei REWE-Filialen, einer NORMA-Filiale und einem Bäcker abgeholt. Der Antrieb der Initiator*innen ist die Ressourcenverschwendung, die hinter den Tonnen täglich weggeworfener Lebensmittel steckt, aufzuzeigen. Die Öffentlichkeit kann durch das sinnstiftende Projekt auf diesen Missstand aufmerksam werden, ins Nachdenken und schließlich ins Handeln kommen. Gleichzeitig ist das Herz des Konzepts, dass aus Fremden eine Gemeinschaft wird – über Generationen, Sprachen und Bildungshintergründe hinweg.
Bilder von einem anderen Donnerstag, die uns freundlicherweise Ute zur Verfügung gestellt hat – Danke an dieser Stelle! Die von der Filiale aussortierten Blümchen werden gleich genutzt, die geretteten Lebensmittel liebevoll in Szene zu setzen. Schließlich isst das Auge mit!
Der Entstehung der Gemeinschaft zuzusehen und beizuwohnen, ist für die Aktiven ein unbezahlbarer Lohn für den sich jede investierte Minute in das Projekt lohnt. Wie lange unsere Lebensmittel noch in diesem hohen Maße verschwendet werden, kann ein/e jede*r von uns durch politische, aktivistische und Einkaufsentscheidungen beeinflussen. Gemeinschaften die gemeinsamer Ideale und Träume umsetzen, werden über das Projektende hinaus von großem Wert für Annette, Inge und alle anderen im Projekt sein.
Auf ein Wort!
Inge Spiegel, Koordinatorin der SIGENA ST. Johannis: Meine Motivation für diese Aktion ist folgendes:
- Geld sparen. Für Menschen mit wenig Geld bietet die Ausgabe von Backwaren und Lebensmitteln eine Gelegenheit kostenlos Backwaren, Obst und Gemüse zu erhalten. Aus Gesprächen weiß ich, dass viele Nachbarn für dieses Angebot sehr dankbar sind, da sie dadurch Ausgaben sparen. Einige frieren sich Brot und Brötchen ein, damit es für die ganze Woche reicht.
- Kontakte pflegen und knüpfen. Die Brotausgabe hat sich mittlerweile zu einem Treffpunkt in der Nachbarschaft entwickelt. Etliche kommen schon früher, um mit anderen Abholer*innen vor dem Eingang des Nachbarschaftstreffs ins Gespräch zu kommen.
- Sorge füreinander fördern. Einige Abholer*innen nehmen Backwaren für ihre Nachbar*innen mit. Dies stärkt die Nachbarschaft im Haus und trägt dazu bei, dass Menschen füreinander sorgen.
- Ressourcen schonen durch Lebensmittel retten. CO2 Einsparung. Die Bäckerei und die Supermärkte sparen sich die Entsorgung. Jede*r kann kommen, um ein Zeichen gegen Lebensmittelverschwendung zu setzen. Aus diesem Grund steht die Lebensmittelausgabe für alle offen. Bedürftigkeit ist kein Kriterium.
- Netzwerke knüpfen. So es denn wieder geht, kommen zweimal im Monat Menschen aus der Nachbarschaft in den SIGENA Nachbarschaftstreff, um mit den geretteten Lebensmitteln gemeinsam zu kochen und zu essen. Diese Veranstaltung nennt sich „Meet and Eat“ und dient dazu, die 17 Nachhaltigkeitsziele der UNO bekannter zu machen und um Kontakte in der Nachbarschaft zu knüpfen.
Der SIGENA-Nachbarschaftstreff erfüllt so seine Funktion, Initiativen zum Wohle der Nachbarschaft zu organisieren und bürgerschaftliches Engagement zum Wohle für die Nachbarschaft zu fördern. Alle Abholer*innen holen ehrenamtlich ab.
Zu unserer großen Freude wirken das Meet&Eat bzw. die daraus entstandene regelmäßige Lebensmittelrettungsaktionen über den SIGENA Nachbarschaftstreff wie ein Modellprojekt und haben schon Menschen in Mögeldorf und in der Nordstadt („Nordstadt teilt“ mit und in St. Matthäus) inspiriert, gleiches auf die Beine zu stellen.
Ist dein Interesse geweckt und du hast Lust, mitzuretten?
Wir suchen Abholer*innen. Momentan retten wir einmal die Woche aus vier Supermärkten und zwei Bäckereien. Das ist nur dank engagierter Menschen möglich – vielleicht wie dir! Und prinzipiell wäre natürlich auch noch Luft nach oben…
Oder möchtest vorbeikommen und gerettete Lebensmittel abholen?
Dann meld dich gerne direkt bei Inge: Sigena@diakoneo.de
Lebensmittelverschwendung berührt sehr viele nachhaltige Entwicklungsziele, denn der Anbau und die Produktion von Lebensmitteln haben immer mit Flächenverbrauch, dem Einsatz von Ressourcen und Energie und Arbeitsplätzen zu tun, und beeinflusst damit auch Artensterben, Klimakrise und Ungleichheiten: